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  • Clarissa Lempp

Der Berg: Clarissa Lempp


Clarissa Lempp (*1981) lebt in Berlin. Sie arbeitet als freie Dozentin und schreibt über Geister und andere Erscheinungen.

Die Kurzgeschichte "Der Berg" entstand auf der kanarischen Insel La Gomera. Sie findet wie die meisten ihrer Geschichten Inspiration in Landschaft, Mythos und modernem Horror. In der Atmosphäre des "Paranormalen" entwickeln sich dabei oft Figuren, die sich jenseits struktureller Identitäten wie Geschlecht, Alter oder Heteronormativität erzählen.

 

Der Berg

Schwarze Punkte wuseln unter dem Plastik und dir wird klar, die Ameisen haben dein Frühstück besetzt. Obwohl dir die kleine Insektenstraße am Fenster auffiel, hast du das Gebäck gestern Nacht auf den Tisch gelegt. Die Plastikhülle schützte es nicht vor den Raubzügen der staatenbildenden Gliederfüßer. Du ärgerst dich einen Moment, bevor du wieder in stumpfes Staunen ob der Betriebsamkeit der Formicidae verfällst. Die afrikanische Sonne, die hier über europäische Gesetzgebung hinweg scheint, ist grell und stark und bahnt sich ihren Weg durch die dünnen Vorhänge bis auf deine Haut. Im Plastikbeutel mit den Ameisen bildet sich Kondenswasser. Wenn du zu lange über die Verhältnisse nachdenkst, die Sonne und Rechtsrahmen auf die unterschiedlichen Kontinente platziert, wird dir schwindlig. In dir entsteht das Bild riesiger Holzschiffe und dazwischen drängt sich das Gefühl von der Fähre, als dir das Salzwasser in scharfen Tropfen das Gesicht benetzte und die grauen Köpfe zweier Grindwale in den Bugwellen auftauchten. Du hast geweint, als hättest du ein Einhorn gesehen.

Der Blick in das Wal-Auge liegt eine Nacht zurück. Das getrocknete Salz hinterließ ein Spannen auf der Haut, das du mit müden Bewegungen und warmem Wasser abwuschst. Dazwischen hast du einmal die Insel überquert, auf geschlängelten Wegen, in einem Bus, der jede Kurve auskostete, bis dir speiübel war. Neben dir übergab sich ein kleines Mädchen in einen Plastikbeutel. "Ich hab da reingekotzt", sagte sie, hob den Beutel hoch und die Mutter streichelte ihr den Kopf. Die Nacht war unpässlich und du musst müde los, Nahrung auftreiben, weil die Natur sich zwar nicht direkt gegen dich richtet, aber doch einen feuchten Kehricht um dein Wohlergehen gibt. Aber du wolltest ja nicht ins Hotel auf der anderen Insel, wo man dich mit Mahlzeiten bei Laune gehalten hätte. Du wolltest das Gefühl weit fort von allem zu sein, von Arbeit, Reproduktion und Stumpfsinn des alltäglichen Lebens, das deines und wie das vieler anderer war. Weg vom kleinen, eigenen Dasein und dem Wahnsinn explodierender Bomben und Kindersärgen auf dem Nachrichtenbildschirm.

Nach einer ausgiebigen Dusche ist dein Kopf klarer und du steigst die kleinen Straßen und Treppen zum Strand hinab. Für einen Moment trifft dich die pittoreske Schönheit des Ortes, eingebettet in Palmen- und Bananenhaine und den atlantischen Ozean. Schon vom Weg aus siehst du die weiße Gischt der hohen Wellen in die Luft greifen, ihr salziger Atem kriecht in deine Lungen. Auf dem Dorfplatz sitzen unter einem Baum Hippies, mit bunten Hosen und braunen Körpern. Sie unterhalten sich, jonglieren, werfen Stöcke in die Luft oder dösen im Schatten, die Köpfe an die kühle Mauer gelehnt. In einem kleinen Café mit Strandblick isst du ein "Sandwich Americano" mit Avocado und Ei und trinkst einen frisch gepressten Saft vor dem Espresso. Du denkst an Zuhause. "Du siehst so müde aus", sagten alle und hatten recht, denn du schläfst nicht mehr. Nachdem Frühstück gehst du ans Meer, ziehst dich aber nicht ganz aus, wie die anderen hier, sondern versteckst deine blassen Beine unter dem viel zu weiten T-Shirt, das du aus dem Schrank deines Vaters geklaut hast, in irgendeinem Sommer, in dem du ohne viel Gepäck in der Kühle der heimischen Berge gestrandet bist. Es fiel ihm nie auf, dass du es jetzt trägst.

Als du denn Strand verlässt, ist deine Haut im Gesicht rot und schmerzt. Du beschließt den Tagesplan trotzdem einzuhalten, der vorsieht: Beach-Tag, Oktopus im Hafenrestaurant, Feuershow am Meer. Die Anordnung ist nicht in deinem Kopf entstanden, sondern stammt aus einem Reisemagazin und du erinnerst dich an die Überschrift "Der perfekte Tag im Hippie-Paradies", die du ebenso armselig wie verheißungsvoll fandest. Jetzt willst du diesen perfekten Tag und deshalb gehst du los und isst den Kraken, der unter einem Berg aus Essig-Zwiebeln begraben liegt. Du trinkst dazu ein Glas Wein, das lächerlich günstig ist und es macht deinen Kopf leicht und deinen Körper schwer. Dich überkommt die Lust nach Tabak, trotzdem du seit einem Jahr nicht mehr rauchst. Du verlangst die Rechnung und gehst zum Strand, wo die Feuershow bald beginnt.

Auf der kleinen Mauer sitzen bereits Menschen. Es sind vielleicht 50 Wartende, die sich vor dir zu einer unbezwingbaren Masse formieren. Du bleibst abseits und nimmst dir eine der Zigaretten, die du dir doch noch auf dem Weg gekauft hast, als dir auffällt, dass du kein Feuer bei dir trägst. Unten am Strand beginnt die Show und die Akrobatinnen werfen Fackeln in die Luft und lassen brennende Reifen um ihre Körper kreisen. Du lächelst über die Ironie der Situation und siehst dich um. Einige Meter entfernt entdeckst du einen Turm aus Haaren. Ein leutseliges Gesicht mit Bart trägt ihn. Die dünne Hand hält eine Zigarette. Du gehst rüber und fragst auf Englisch nach Feuer und der Hippie hält dir eine Flamme entgegen. Er zeigt mit der Hand neben sich und ohne zu überlegen setzt du dich und rauchst schweigend, starrst wie er auf das Meer. Er sieht dich an und sagt "You are burnt" und als du verdutzt zurück blickst, streicht er sich über die Nase und sagt "Your skin". Du bestätigst seine Feststellung mit einem knappen Kopfnicken. Deine Sonnenempfindlichkeit ist dir augenblicklich peinlich. Aber du redest irgendwann mit ihm über alles Mögliche, die Insel, das Meer, die Delfine darin und die Nacht geht vorüber, ohne dass du es bemerkst.

Du begegnest ihm von da an täglich, obschon ihr euch nie verabredet. Er sitzt auf der Mauer, am Wasser, auf dem Dorfplatz und du gehst zu ihm und sagst: "How are you?" und er führt dich irgendwo hin. Zu einem abgelegenen Badefleck, auf einen Hügel, in die Papaya-Gärten. Du wandelst schweigsam neben ihm durch eine Welt, die voller Sonne und Müßiggang zu sein scheint und nach drei oder vier Tagen fällt dir auf, dass du ihn nicht nach seinem Namen gefragt hast. Jetzt scheint es schon zu spät dafür. In der Nacht verabschiedet er sich. Geht zu seinem Zelt auf den Berg und lässt dich zurück. Dein Apartment meidest du, denn die Ameisen sind inzwischen überall. In den Schränken, in der Dusche, im Bett. Die Dunkelheit trägt dich früher oder später zurück zum Strand, weil dir kein anderer Ort zum hingehen einfällt. Mühselig tastest du den Weg über die Felsen, bis du eine gute Stelle gefunden hast. Du siehst ins Nichts des schwarzen Meers, lauschst den Wellen und dem spöttischen Geschrei der Gelbschnabel-Sturmtaucher. Sie klingen wie die Lach-Yoga-Gruppe aus dem Wellness-Resort am anderen Ende der Bucht.

Schritte, die Steine entlang, schrecken dich auf. Für einen kurzen Moment denkst du, er sei es. Aber dann hörst du die fließenden Bewegungen. Der leichte schnelle Lauf eines Tieres. Als du dich umdrehst, blickst du in das Gesicht eines gelben Hundes. Vielleicht eine Armlänge entfernt. Er rührt sich nicht und so verharrst auch du, bis er sich setzt und du dich etwas entspannst und schließlich unter dem Blick des Canoiden die Augen schließt. Als du sie wieder öffnest, sind der Hund und die Nacht verschwunden. Aber er ist da und kocht Kaffee über einem Feuer. Du begrüßt ihn namenlos. "Good morning, you". Es ist dein letzter Tag vor der Abreise und der Morgen hüllt sich in einen gelben Schleier. "Kalima", sagt er. Der Wind aus der marokkanischen Wüste, der über den Atlantik weht, gefüllt mit Sandstaub in der warmen Luft, der die Sicht trübt und die Atemwege lädiert. Er sagt, in den Bergen sei es angenehmer und ihr beschließt nachdem Kaffee loszugehen.

Per Auto-Stopp lasst ihr euch bis zum Rand des Waldes bringen. Hier oben ist die Atmosphäre anders. Bisher war alles Sonne und Stein und jetzt dieser Wald. Voll endemischer Gewächse mit verschlungenen Stämmen. Sieben Arten der Lorbeerbäume gibt es nur hier und nirgendwo sonst auf der Welt. Die Luft riecht süßlich schwer. Feucht. Du riechst Muskat, Pfefferkuchen, Morsch und Alt und Jung und Grün und glitschigen Fels. Für einen Moment denkst du die Orientierung zu verlieren. Dich im Raum zu drehen, als würden sich dein Körper von der Schwerkraft lösen. Von dir weg. Du siehst in die Sonne, den kühlen Schatten der Bäume im Rücken. Der Weg führt weiter über Klippen, durch den nebeligen Hain. Du hast ihn fast vergessen, während des Laufens im Wald. Während das Gehölz deine Augen ausfüllt und die Stille dein Ohr. Du hast fast vergessen, dass du nicht allein bist, sondern mit ihm, bis er "Stop!" rief und du stehen bleibst. Vor dir ragt ein seltsam geformter Zacken aus dem Wald. Eine Stein-Nase, ein Hinkel wie ihn Obelix trug. Ihr setzt euch etwas abseits davon in eine Felsnische und esst die Bananen und Datteln, die du noch in dem kleinen Supermarkt gekauft hast und da fällt dir erst auf, dass er keine Schuhe trägt. Du willst etwas sagen, aber tust es nicht, füllst stattdessen den Resonanzraum mit dem zuckrigen Obst und streckst dich in der Wärme der Sonne.

Nach der Mahlzeit legt ihr euch hin und genießt die Bewegungslosigkeit und das Lichtspiel der Schatten. Ihr habt euch Kissen aus Farn und Moos gemacht, das hier überall in den Ästen hängt. Es erinnerte dich beim Aufstieg an Algen und es machte Sinn. Der Wald wirkt wie ein trockengelegtes Riff und du fühlst dich darin wohlig abgeschnitten von der Welt, wie beim Tauchgang. Du hörst seinen ruhigen Atem neben dir und siehst zu ihm. Es sieht aus, als ob er schläft und du willst auch schlafen. Aber es gelingt dir nicht. Du willst ihn etwas fragen, um zu sehen ob er doch wach ist, aber dir fällt nichts ein und da tust du es einfach, fragst nach seinem Namen. Als er ihn ausspricht, brauchst du einen Moment um es zusammenzusetzen. Auch der auffallend geformte Felsen unter dem ihr liegt, heißt so. Du hast es auf der Karte gesehen, im Hafenrestaurant, auf dem papiernen Tischset mit den Sehenswürdigkeiten der Insel. Er lacht, ohne die Augen zu öffnen.

Du willst dich zu ihm legen und du tust es einfach. Seine Haut ist kühl und hart, sein Atem ist schwer und metallisch. Er hält dich und du lässt es zu, drängst dich an ihn, dichter, tiefer, immer weiter in die Dunkelheit des Phonoliths, das seinen Körper füllt. Bis du dich fallen lässt, die Arme von dir gestreckt, dein Kopf aufschlägt und du endlich schläfst auf stetem Stein. Beim Aufwachen hält dich ein Fels in seiner Umklammerung. Der andere, der mit dem Haar, ist weg. Vielleicht war er nie da, denkst du, als der Morgen endlich zu dir dringt. Du kriechst aus den Felsen, dehnst dich. In dir ist es angenehm leer und trotz des harten Bettes fühlst du dich weich und entspannt. Nur deine Schläfe brennt ein wenig. Du reibst sie und siehst auf deine Finger, an denen jetzt getrocknetes Blut klebt. Du lebst also. Du siehst hinab ins Tal. Eine Landschaft, gemacht wie für Ameisen aus dieser Perspektive und du lachst bei diesem Gedanken, laut und gackernd, wie die Sturmtaucher beim Flug auf die See.

 

 

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The image of Quasimodo is by French artist Louis Steinheil, which appeared in  the 1844 edition of Victor Hugo's "Notre-Dame de Paris" published by Perrotin of Paris.

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